„Ich geh da nicht mehr hin. Es bringt mir nichts!“, sagt Leon mit einer Überzeugung in der Stimme, die uns zusammenzucken lässt. Er und seine Mutter sitzen mit uns im Erstgespräch für eine Lerntherapie und seine Mutter erzählt uns, dass sich die Situation jetzt, wo es um die Schulwahl nach Klasse vier geht, dramatisch zugespitzt hat.
Leon ist seit einiger Zeit nicht mehr ohne Weiteres bereit, in die Schule zu gehen. Befragt nach seinen Gründen, wird uns als Lerntherapeutinnen klar: Leon hat bereits mit 11 Jahren abgeschlossen mit dem Schulsystem. Und er ist nicht allein damit.
Alles begann in der ersten Klasse.
In Leons Kopf wollten die einzelnen Buchstaben einfach keine Wörter ergeben. Er übte und übte. Er hatte sich doch so auf die Schule gefreut.
„Leon hat so viele Interessen und verfügt über einen enormen Wortschatz“, sagt seine Mutter und schluckt die Tränen weg, „aber das mit dem Lesen funktioniert einfach nicht!“.
Die sich anschließende Schilderung der letzten Schuljahre ist für uns deshalb so bedrückend, weil wir sie nahezu jeden Tag aufs Neue hören.
Meistens in Form verzweifelter Anrufe von Eltern, die sich keinen Rat mehr wissen und die Nummer unseres ElternRats wählen.
Diese Hotline wurde von uns für Eltern von „Anderslerner:innen“ eingerichtet. Wir merkten sehr schnell, dass ein großer Bedarf an ehrlicher und kompetenter Beratung seitens der Eltern besteht. Und wir merkten, dass LRS-Betroffene dabei einen Großteil der Fragen ausmachten.
Eltern von Kindern mit Problemen im Lesen und Schreiben machen sich oft große Sorgen, ohne dabei in den Grundschulen immer Gehör zu finden.
Die Geschichten handeln oft von Schuldzuweisungen, vom Stigmatisieren und vom gefühlten Scheitern. Und es sind Geschichten großer Überforderung seitens aller Beteiligten.
Geschichten vom Kampf um Hausaufgaben, vom ewigen Üben und letztlich vom Aufgeben und stillem Hoffen auf Veränderung „von allein“.
Fast immer beginnen die Schilderungen der Eltern bereits mit der Einschulung, manchmal sogar im Kindergarten.
Während andere Kinder bereits kurz nach dem Schulstart lesen und schreiben können, sind es die eigenen Kinder, die Probleme bekommen. Sie werden von der Klasse quasi „abgehängt“ und besuchen mehrheitlich bereits ab der ersten Klasse Förderkurse, weil ihre Leistungen im Fach Deutsch nicht ausreichend sind.
Deutschlehrer:innen der ersten Grundschuljahre neigen oft dazu, die Sorgen der Eltern zunächst zu beschwichtigen.
Was gut tut und ganz sicher auch in manchem Fall richtig ist, ist bei Betroffenen einer Lese- und Rechtschreibstörung aber ein fatales Vorgehen.
Eine lange Leidenszeit ist dann quasi vorhersehbar. Denn: je früher eine LRS diagnostiziert wird, desto weniger stark wird die Lücke zur Altersgruppe.
„Das kommt noch. Leon braucht einfach ein wenig mehr Zeit und Übung“, beschwichtigt auch die Klassenlehrerin von Leon nach dem ersten Halbjahr, – ohne zu erkennen, dass alles Üben bisher keinerlei Effekt gezeigt hat.
Im Verlauf des ersten Jahres wird Leons Leseschwäche ganz schnell auch zu einer Rechtschreibschwäche. Das eine bedingt das andere.
Aber Leons Mutter wartet ab, denn als Mutter möchte man auch darauf vertrauen, dass es „von alleine“ besser wird und auch gern der wohlmeinenden Lehrerin glauben.
So kommt es dazu, dass Leon auch noch am Ende der zweiten Klasse in Skelettschreibweise schreibt (z.B. „Ao statt Auto“), obwohl gefühlt ständig irgendjemand mit ihm geübt hat.
Fast immer ist das Mama gewesen und die ist jetzt der Verzweiflung nahe.
War Leon anfangs noch gewillt, etwas zu verändern, so gibt er sich jetzt regelrecht auf.
Deutschunterricht wird zum absoluten Angstgegner.
Leider, und auch diese Erfahrungen eint diese Geschichten, ist von der Schule oft nicht viel Hilfe zu erwarten.
Spätestens jetzt verweisen Lehrerinnen und Lehrer mehrheitlich darauf, dass man nur mehr üben müsse.
Außerdem führen Lehrerinnen und Lehrer an, dass es sehr häufig an bildungs- und damit wenig Literatur affinen Elternhäusern liege, dass Kinder heute immer weniger kompetent im Lesen und Schreiben seien.
Dieses reflexhafte Beharren darauf, dass es nicht am Unterricht liegen könne, schließlich hätten es ja alle anderen mehr oder weniger prima gelernt, das Aufmachen der „Schuldfrage“, das sind Stoffe aus nahezu jedem Elterngespräch in der Schule, von denen uns berichtet wird.
Sollten Eltern Hilfe im direkten Schulumfeld des Kindes suchen, so fühlen sie sich oft alleingelassen und kritisiert.
Schule, so scheint es, ist über jeden Zweifel erhaben. Da läuft nichts schief im Erstunterricht. Die betroffenen Schüler:innen? Ausnahmefälle!
Und immer wieder erleben Eltern, dass sie zu Schuldigen, zu Mitverursachenden gemacht werden sollen. „Seien Sie Ihrem Kind ein Vorbild, Frau S., und lesen sie mehr!“.
Die Schilderungen gehen gar so weit, dass in „runden Tischen“ Müttern die Aufgabe gestellt wird, mit gutem Beispiel voranzugehen und mindestens ein Buch pro Monat in Gegenwart des Kindes zu lesen.
So als sei das mangelnde gute Vorbild Grund für die Misere des Kindes.
Spätestens an dieser Stelle der Schilderungen möchten wir als Lerntherapeutinnen und nicht zuletzt ich, als ehemalige Deutschlehrerin, schreien!
Die Verzweiflung und die Machtlosigkeit, die Eltern dann in Endlosschleife fühlen müssen, ist greifbar.
Natürlich gibt es die guten Lehrer:innen, die hinsehen, die fördern, die Kontakte weitergeben. Die sich in die Karten gucken lassen und sich vernetzen.
Die im regen Austausch mit Lerntherapeut:innen und Psycholg:innen stehen und ganz viel bewegen.
Aber diese guten, hinsehenden Lehrer:innen sind beim Thema LRS sehr viel eher die Ausnahme als die Regel.
Woran liegt das aber? Woran liegt es, dass Grundschullehrer:innen in so vielen Fällen nicht wissen, welche typischen Symptome eine früh auftretende Lese- Rechtschreibschwäche zeigt?
Warum erkennen sie die Symptome von LRS so oft nicht?
Wäre es nicht eigentlich ihre Aufgabe?
Unsere Erfahrung zeigt: Lehrerinnen und Lehrer kennen schlicht die klassischen Symptome einer frühen Legasthenie nicht, weil inklusive Inhalte und sonderpädagogische Themenfelder keineswegs Teil der klassischen Lehrer:innenausbildung sind und waren.
Auch ist Lehrer:innen mehrheitlich der Beruf der Lerntherapeut:in gänzlich unbekannt. Sie wissen oftmals nicht, wohin die Eltern sich wenden sollten.
Ein:e Grundschullehreri:n studiert je nach Bundesland zwei bis drei Unterrichtsfächer und allgemeine Erziehungswissenschaft.
Gerade erst wandelt sich an den Unis die Lehrer:innenausbildung langsam und jetzt erst gerät in den Blick, dass wir mit dem Auftrag der Inklusion dafür Sorgen müssen, dass Lehrer:innen über all diese Themen auch Bescheid wissen.
Dass Lehrer:innen zumindest eine Ahnung haben sollten und im Zweifel einen multiperspektivischen Zugang suchen sollten...
heißt in der Praxis: Beratung bei dem oder der zuständigen Sonderpädagog:in suchen!
Der Betreuungsschlüssel durch Sonderpädagog:innen im Elementarbereich der Schulen ist aber noch dazu bundesweit eine Katastrophe.
Die Chance also, dass ein Kind wie Leon, zu einem früheren Zeitpunkt einer wissenden Lehrkraft im heutigen Schulsystem auffällt, ist an sehr vielen Schulen zu klein.
Kinder wie Leon sind die Leidtragenden – und das im wahrsten Sinne des Wortes!
Der Teufelskreis, in dem auch Leon steckt,ist eine Abwärtsspirale aus Angst, Vermeidungsverhalten und Scham.
Kinder wie Leon sind Meister im „so tun als ob“ – oft über Jahre (!) hinweg.
Dass ihre Legasthenie, die Lese- Rechtschreibstörung, die Legasthenie (allein die unbestimmte Begrifflichkeit macht es letztlich auch Eltern schwer!) also, dass sie der Grund für seine Probleme im Lesen und Schreiben ist, das wird nur mit Glück erkannt – und fast immer viel zu spät.
Nicht, weil man dann nichts mehr tun könnte, sondern weil Kinder wie Leon sich dann schon innerlich nahezu aufgegeben haben.
In der Lerntherapie brauchen wir mehrere Monate, um dieses desaströse Selbstbild wieder aufzubauen.
Wir bei Corinna Milinski – anders lernen, möchten diese Genealogie aus Unwissenheit und Scham durchbrechen.
Wir machen jeder Grundschule in Deutschland das Angebot, Grundschullehrer:innen fortzubilden in genau dieser Thematik der Lese- Rechtschreibstörung und ihrer Symptome.
Es geht um eine Veränderung des Blicks und um die Kenntnis der Fakten. Nur wenn Lehrer:innen auf dieses Wissen zurückgreifen können, können sie aktiv sehr früh etwas bewirken und echte Hilfestellungen geben.
Denn wir unterstellen jedem Lehrer und jeder Lehrerin, dass sie das wollen.
In dieser Checkliste stehen bewusst neben den „klassischen“ Anzeichen der LRS auch die verdeckten Anzeichen, die man nicht auf den ersten Blick erkennt.
Wir möchten Eltern damit ausdrücklich keine weiteren Ängste machen.
Vielmehr geht es uns darum, Kindern und Jugendlichen lange Leidenswege zu ersparen und ihre Eltern zu kompetenten Beobachtern zu machen.
Sie ersetzt keinerlei Diagnose – das soll sie auch nicht.
Leon hatte das Glück, dass seine Mutter ihrem Bauchgefühl vertraut hat und sich gekümmert hat.
Sie hat eigeninitiativ stundenlang recherchiert, verglichen und letztlich adäquate Hilfe für ihn gefunden.
Leon besucht heute das Gymnasium und seine Eltern haben dafür gesorgt, dass er aufgrund seiner Legasthenie einen Nachteilsausgleich erhält.
Er geht wieder gern zur Schule. Ohne die Kraft seiner Eltern und ihr Engagement stünde Leon aber heute ganz sicher nicht dort, wo er steht.
Dies darf nicht die Regel bleiben!
Helfen Sie mit, Lehrer, Lehrerinnen und Eltern für das Thema zu sensibilisieren.
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Wir sind von Herzen der Überzeugung: Die Welt braucht Menschen, die an sich glauben, gerade WEIL sie anders sind!
LINKS:
Die Checkliste LRS für Eltern findest du unter:
Für Dich – Corinna Milinski – Anders lernen.
Höre auch unsere Podcast-Folge zum Thema LRS:
Weiterer Blogartikel zum Thema LRS:
Den Link zum Elternrat-Angebot findest du hier:
ElternRAT – Corinna Milinski – Anders lernen.
An der Fortbildung „LRS in Schule“ interessierte Schulen erreichen uns unter: