Herbst 1984 – das vergilbte Foto aus Kindertagen zeigt die Kulisse eines Dorfkindergartens am Rande von Hamburg, ein Gruppenbild mit 23 Kindern und zwei Kindergärtnerinnen (die hießen damals noch so).
Alle stehen auf Stühlen in ihrem Gruppenraum und der Fotograf war ein aufgesetzt-lustiger Mann mit Schnauzbart, der immerzu „hier schießt das Vögelchen“ rief.
Die Kinder hießen Melanie, Sandra, Anja, Christian oder Michael.
Mittendrin stehe ich, die Hände zwar an der Hosennaht, aber lieb und artig sehe ich irgendwie nicht aus in meiner Jeans mit den roten Sternen-Flicken auf den Knien.
Überhaupt sind wir alle unheimlich ähnlich angezogen.
Retro-Kindheit im Dia-Ton der Siebziger
Vorherrschend zur damaligen Zeit: die Latzhose aus Jeans oder Cord, Strumpfhosen bei Jungs wie Mädchen, geringelte Rollkragenpullover in bunt-bedeckten Farben. So ganz war bei uns die braun-grüne Phase der Siebziger noch nicht aus den Kleiderschränken verschwunden – schließlich war das „Auftragen“ der Kleidung größerer Geschwister Gang und Gäbe.
Heute färben die Kinder von damals ihre Bilder in der Foto-App extra in jenem gelblich-bräunlichen Unterton, „Retro“ heißt das gern. Geradezu so, als wolle man die heutige Realität einfärben in dem Kindheits- Dia-Ton der Siebziger und Achtziger.
Dieses Foto könnte gut und gerne heute als Werbemittel funktionieren. Für einen ganz alternativen Kindergarten, bei dem bewusst darauf verzichtet wird, die Jungs und Mädchen in geschlechtsspezifisches Rollenverhalten zu drängen.
Kinder der Kinderladen-Bewegung
In diesem Kindergarten würde sicher bewusst sprachlich gegendert werden und da würden auf jeden Fall regelhaft auch männlich fühlende Menschen arbeiten – weil Paul, Lea-Marie und Hannah Vorbilder jenseits der prototypisch cis-weiblichen Erzieherin erleben sollen. Paul und Max übrigens ganz genauso!
Und Mädchen wären nirgends einfach nur mitgemeint, sondern jede*r als Mensch akzeptiert und als wertvoll respektiert. Geschlecht wäre kein maßgebliches Kriterium zur Unterscheidung mehr. Die Norm an sich wäre gelebte Vielfalt.
Klingt interessant und utopisch zugleich.
Mir scheint, rein klamottentechnisch waren wir damals als Kinder der Kinderladen-Bewegung, als Alt-68er Sprösslinge, doch zumindest was die Kleiderfrage betraf, schon weiter als heute.
Heute: Geschlechterzuschreibung ab Geburt
Wenn du heute in große Geschäfte gehst und Kinderkleidung suchst, dann brauchst du keine Schilder mehr, um zu wissen, ob du in der Jungs- oder Mädchenecke einkaufst.
Die Mädchenecke gibt her, was kleine Prinzessinnen angeblich begehren: bauchfreie Tops, glitzernde Röckchen, knappe Kleidchen mit viel Tüll und Einhörner-Allgegenwart. Es gibt mittlerweile Bustiers ab Größe 134, Kindheit wirkt hier künstlich verkürzt. Erwachsensein spielen in rosa, pink und lila!
Der milliardenschwere Markt der Jungsklamotte hält dagegen furchteinflößende Dinos, Marvelhelden, Roboter und Harry-Potter bereits ab Babyalter für die kaufwillige Elternschaft bereit. Später dann Skateboardprints und Harry Potter. Fußball ohnehin in Omnipräsenz.
Die Jungs-Welt erscheint heute vor allem modetechnisch in stählernem Grau und Schwarz!
Nie war so klar, wer du ab Geburt bist: „Junge oder Mädchen?“ – Frage der Fragen, keine Feststellung, sondern bereits ab Geburt eine Zuschreibung. Eng definiert und abgesteckt die mit ihr verknüpfte Erwartungshaltung an die zu erfüllende Geschlechterrolle.
Was ist denn nur passiert?
Eltern heute werden nahezu täglich mit einer Realität konfrontiert, die die Welt rosa und blau erscheinen lässt. Kinder zu haben, bedeutet immer auch, einen Jungen oder ein Mädchen großzuziehen. Sehr selbstverständlich, so scheint es zumindest, akzeptieren Eltern die bestehende Zweiteilung der Welt, die nicht zuletzt über Kindermode immer auch reproduziert wird. Rosa für die Mädchen, blau für die Jungs.
Dabei gibt es viele Eltern, die ganz anders sozialisiert wurden in ihrer Kindheit. Deren Elternhäuser zu einem Großteil zumindest noch beeinflusst waren von dem Geist der 68er -Bewegung, vor allem in Erziehungsfragen. Von der Kinderladenbewegung und ihren Gründervätern und -müttern, den reformpädagogischen Ansätzen in Schulen – die Lebensrealität von Kindern damals erscheint zumindest retrospektiv offener. Rollenerwartungen gab es – natürlich – bekanntermaßen trotzdem, aber der zumindest optische Stempel über die Zweiteilung der Kinderwelt in rosa und blau blieb aus.
Sie sind die ersten, die ihre Lindgren-Sammlung zur Geburt mit leuchtenden Augen weitergeben und mit ihr einen Wunsch:
„Frech, wild und wunderbar“ sollen sie sein, ihre Kinder. Eltern heute wünschen sich gerade für ihre Mädchen, sie sollten wie Pipi ihr Leben bestreiten.
Pippi Langstrumpf als ungebrochenes Rolemodel heutiger Zeit:
Selbstbewusst, in Einklang mit sich, ruhend in einem Standing gegen die Unbill dieser Welt, durchaus auch achtsam mit sich (schließlich chillt sie mehrheitlich in der Sonne und weiß genau, was ihr gut tut) und ganz sicher keiner Erwartungshaltung Erwachsener unterworfen.
Dieses Mädchen steht seit Generationen für die Befreiung von einengenden Konventionen und erzieherischen Konstrukten, die Menschen autoritär zu ihrem Bilde formen wollen.
Lindgrens Nähe zu den reformpädagogischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts: offensichtlich.
Ihre Antiheldin ist die angepasste Nachbarstochter Annika, die prototypisch als Mädchen der damaligen Zeit (schließlich erschien Pippi Langstrumpf bereits 1949 in Deutschland) gelesen werden kann. Schüchtern, lieb und angepasst – fast meinungslos erscheint sie uns. Und immer ein bisschen beleidigt. Wir ahnen, warum.
Individualität ist das uns eingeschriebene Lebensprinzip
Wir, als unter anderem durch Lindgren geprägte Generation, verhehlen unsere Affinität zu Skandinavien nicht. Wir lieben Schweden, wir fahren gerne bunte Bullis, die uns an unsere irgendwie hippie-bunt geprägte Kindheit erinnern, und wünschen uns manchmal in die analoge Welt unserer Kindertage zurück. Ein bisschen von dem Bullerbü und dem mit Lindgrens Texten vermittelten Gefühl von Freiheit und Zeitlosigkeit.
Wir wollen das Beste für unsere Kinder, Individualität ist das uns eingeschriebene Lebensprinzip.
Wir lieben unsere Kinder. Kaufen Sinnkarten mit Sprüchen: „Sei Pippi und nicht Annika“ oder „sei frech, wild und wunderbar“, weil wir uns gerade für die Kinder wünschen, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Dass sie sagen können, was sie denken und ihr Wille zur Anpassung nie größer werden soll, als der zur Selbstbestimmung.
Weil sie erfahren haben, dass es reicht, sich selbst zu genügen
Ich bin eine von diesen Müttern und wünsche mir, dass meine Tochter und alle ihre Freundinnen selbstbewusst wissen, wer sie sind. Dass sie sich niemals fragen werden, ob sie gut genug für andere sind. Weil sie erfahren haben, dass es reicht, sich selbst zu genügen.
Und ich frage mich jeden Tag, wie das gelingen kann.
Gerade Mädchen heute stark zu machen gegen all das, was wir als Gesellschaft auch für sie bereithalten:
gegen Sexismus, gegen eine Kultur des Bodyshamings, gegen Ausgrenzung aufgrund von Geschlecht, auf den Gender-Pay-Gap, auf Schönheitsideale jenseits von gesund.
Sie auf ein Leben vorzubereiten, das bis heute als Frau immer noch viel zu selten selbstverständlich auf Augenhöhe zu dem von Männern verläuft.
Als Frau ist man selbstverständlich bewertbar
In meinen Lerntherapiestunden sitzen oft Mädchen, die neben schulischen Problemen überproportional häufiger als Jungen, auch mit extremen Formen von Bodyshaming beschäftigt sind.
Die sich an Donnerstagen zum Germany’s Next Topmodel– Abend verabreden und dann gemeinsam aufsaugen, was Heidi Klum und ihre Juroren über den vermeintlichen „Idealkörper“ zu befinden wissen.
Die jeden Tag erleben, dass Äußerlichkeiten mehr Gewicht bekommen als die Persönlichkeit der Betroffenen. Es ist die Menschlichkeit in Formaten wie diesem, die dabei vollends auf der Strecke bleibt.
Die Mädchen fühlen sich so häufig spätestens mit Einsetzen der Pubertät zu dick und hässlich und selbst wenn sie das nicht tun, dann bleibt das Gefühl, dass man über körperliche Attribute in dieser Welt als Frau wie selbstverständlich bewertbar ist.
Richtig im Sinne der Mehrheitsgesellschaft
Diese Kinder haben allesamt befördernde, liebende Mütter und Väter, die aber trotzdem zulassen, dass ihre Kinder auf dem Weg zum Erwachsenwerden irgendwann einmal annehmen, dass eine Annika zu sein durchaus eine Option sein kann, um richtig im Sinne der Mehrheitsgesellschaft zu sein.
Kinder jenseits dieser Norm haben es schwer.
Ich glaube, dass die Welt nicht schwarz und weiß ist.
Ich halte fest an jedem Grau dazwischen. An Schattierungen, die Optionen für Interpretation mit sich tragen.
Ich habe kein Geheimrezept, wie man das schafft, das mit den glücklichen und starken Kindern und Jugendlichen. Wie man als Eltern auf diesem schmalen Grat wandern kann, auf dem man zwangläufig schreitet, wenn man Kinder hat.
Ich weiß nur: als Mutter habe ich Angst und bin erschrocken, dass ich selbst oft genug zulasse, dass diese Lebensrealität für Kinder heute so ist.
Ich glaube nicht, dass ich die einzige Mutter bin, die so denkt. Ich glaube nicht, dass die Eltern blind sind und wollen, dass ihre Kinder in diesen Plakativen groß werden. Dass am Ende ihr Mädchen- oder Jungssein von der Medien- und Klamottenindustrie maßgeblich beeinflusst wird.
Aber das wird es. Im Höchstmaß.
Glaubenssätze in deiner Elternrolle
Was mir vor allem hilft, ist das offene Gespräch genau darüber zu führen. Sich als Eltern zu fragen, wo die eigenen Werte liegen, die einen bisher selbst getragen haben und sich zu vernetzen.
Sich auch zu fragen, welchen Weg du selbst gegangen bist, welche Glaubenssätze in deiner Elternrolle du in dir trägst und dich immer wieder zu fragen: Was ist mein Wunsch für mein Kind?
Elternsein: heute vielschichtig, schnelllebig und medial-überflutet
Wenn du als Mutter weißt, wer du bist und für dein Kind sein willst. Wenn du dich erinnerst, wie gut es sich anfühlen kann, du selbst zu sein, um deiner selbst Willen geliebt und akzeptiert zu werden, dann kannst du nicht wollen, dass die Welt dich bereits von Kindertagen an in eine Annika-Rolle drängt oder zum Ritter machen will.
Eigene Glaubenssätze aufzudecken und durchaus auch als veränderbar zu bewerten und sich immer auch in der eigenen Eltern- und Geschlechterrolle neu zu definieren, das ist mein Schlüssel zur Abgrenzung. Mein Weg, meinen Kindern authentische Begleitung und Halt zu sein.
Ich glaube, dass Elternsein heute vielschichtig, schnelllebig und medial-überflutet ist und dadurch oft auch schwieriger ist als früher.
Dass durch offene Lebensformen und Lebenswege heute nicht mehr klar ist, wie man „das so macht“ mit der Erziehung und ob man allein das Wort schon abschreckend finden soll oder nicht, macht auf Dauer müde und unsicher. Und immer alles zu kritisieren, auch.
Egal, wen du fragst, der Wunsch aller Eltern ist immer: Das Kind möge gut durchs Leben kommen. Manchmal tun wir so, als sei „das wirkliche Leben“ etwas, das die Kinder erst erwarte, nachdem wir sie darauf vorbereitet haben.
Aber das ist es nicht.
Kinder sind ab Geburt Teil der von uns allen konstruierten Welt, die gerade in Bezug auf Geschlechtlichkeit nahezu nie ausschließlicher war. Und die gerade für Mädchen zum Problem gerät.
Ein Konflikt mit mir selbst
Ich, als Feministin und studierte Soziologin, finde gute Argumente, mich fernab von Rollenzuschreibungen zu bewegen und meine, es meinen Kindern ganz anders vorzuleben.
Das bedeutet aber nicht, dass mir das spielend leicht gelänge. Ich gerate genau an dieser Schnittstelle immer wieder in einen Konflikt mit mir selbst.
Aber ich glaube, dass dieses Bewusstmachen eigener Muster der Weltwahrnehmung und die Reflektion darüber, wer ich für meine Kinder sein möchte, wie ich sie begleiten will, eklatant wichtig ist. Nur so erkenne ich auch Manipulation von einer völlig falschen Seite.
Authentizität- frei von Bewertung oder einem „Richtig“ oder „Falsch“
Und mir gelingt dieser Prozess besser, weil ich heute auch viel klarer als früher in den Austausch und in eine Offenheit gehe. Wir erleben in unserer lerntherapeutischen Arbeit bei anders lernen, dass fast jede Mutter und jeder Vater diesen Prozess kennt.
Ich glaube, dass Eltern sich gegenseitig unterstützen können, in einer großen Authentizität, frei von Bewertung oder einem „Richtig“ oder „Falsch“. Und dass sie sich vernetzen sollten, um zu merken, dass sie mit ihren Zweifeln nicht alleine sind.
Ich schaue mich an auf diesem Bild von 1984 und muss lächeln. Gerade gestern habe ich mir einen Ringel-Rollkragen in senfgelb und braun gekauft und gleich suche ich mein Pippi-Langstrumpf-Buch aus Kindertagen.
Kann man gar nicht oft genug vorlesen!