Olli hat ADHS – und Frau Müller keinen Plan…

„Olli kann sich einfach nicht anpassen, einfachste Regeln sind nicht drin, ich kann nicht mehr, zehn rote Karten in drei Wochen, wie soll das enden? Da muss was passieren, so ist kein Unterricht möglich, da musst du was tun..“

Dieses Ritual wiederholt sich jeden Donnerstag in der ersten großen Pause. Ich kenne Frau Müller, die junge Kollegin, die mit einer Doppelstunde Religion in der fünften Klasse eingesetzt ist, in der ich Klassenlehrerin bin.

Der Ruf nach Disziplin

Ich kenne die Haltung, die besagt, dass man nur konsequenter sein müsse mit Olli, dass man da nichts durchgehen lassen dürfe und auch die Hoffnung, dass das „Dranbleiben“ am Ende den gewünschten Erfolg versprechen soll.

Und ich kenne die Hilflosigkeit, die Ollis Verhalten bei allen verursacht.

Denn das ist eigentlich, was die Kollegin mir sagen will: „Ich kann nicht mehr, so gerät mein Unterricht völlig aus dem Ruder, der Junge gewinnt jeden Machtkampf mit mir, ich bin überfordert.“

Aber genau DAS sagt sie nicht.

Sie möchte mir sagen, dass das Problem von außen verursacht wird und geklärt werden sollte.

Weil Schule so ist. Weil Schule nur so funktioniert!

Regeln für alle – und für alle Regeln

Unterricht, so wie wir ihn kennen, lebt von Regeleinhaltung und vor allem gleichen Regeln für alle.

Die Situation von Donnerstag zu Donnerstag spitzt sich zu – das Ergebnis bleibt das gleiche: Olli stört, Frau Müller klagt.

Olli scheint die Aufforderung zur Anpassung zu ignorieren, – mutwillig.

Auch mir gegenüber.

Er steht ständig auf, wenn alle sitzen sollen. Er redet, er steht vor mir mitten im Unterricht und unterbricht auch mich. Er ärgert seine Mitschüler und provoziert sie, ist laut, er arbeitet nicht, er ist gefühlt immer gegenan.

Nichts scheine ich richtig zu machen mit ihm.

Ich gerate unter Druck, weil keiner mehr mit Olli „klarkommt“.

Das ist mein Bild von Olli.

Die zu Rate gezogene Sozialpädagogin spricht viel mit Olli, aber er weigert sich zu kooperieren. Ich sehe ihn vor mir und ich sehe Frau Müller und ich suche nach Antworten.

Verzweiflung und Ohnmacht

Ollis Eltern rufe ich oft an und sie sind verzweifelt. Zu Hause verhält Olli sich ähnlich und wird zunehmend aggressiv gegenüber seinem kleinen Bruder. Hausaufgaben gemeinsam? – Blanker Horror für alle Beteiligten. Es gibt fast jeden Tag Geschrei von allen Seiten.

„Olli ist unkonzentriert, abgelenkt, kann nicht stillsitzen, schreibt nicht ordentlich, nichts scheint ihm Spaß zu machen, ich weiß nicht mehr weiter“,

 sagt seine Mutter und weint fast am Telefon.

Probleme werden weg-geschoben

Später versuche ich es dann so, wie Frau Müller vorschlägt mit Unterricht nach „Schiebesystem“.

Damit ist das „Classroom-Management“-System gemeint, das in vielen Schulen eingesetzt wird. Da gibt es ein Magnetboard in jeder Klasse, an dem alle Namen angeheftet sind. Frei verschiebbar durch die Lehrerinnen und Lehrer. Auf diesem Board sind bestimmte Elemente feststehend: ein Baum im Zentrum, den ein Sonne-Wolken- Wetterspektrum umgibt. Es ist quasi alles an „Wetter“ für das einzelne Schülerverhalten möglich.

Das Board soll dem Schüler sein Verhalten spiegeln, seine Mitarbeit vor Augen führen. Pädagogisch wertvoll eigentlich mal gedacht als Anreizsystem für Wohlverhalten. Die Sonne steht dabei für Anpassung, für „gutes Benehmen“, für Funktionieren und Mitdenken. Die Sonne ist der Idealzustand des Schülerverhaltens – das ist der Anreiz, da soll jede Schülerin und jeder Schüler hin wollen. Wer das schafft, der wird gelobt und bleibt motiviert  – so ist der vermeintlich gute Plan dahinter.

Gestartet wird irgendwo im luftleeren Raum über dem Baum.

Die Sonnenseite des Verhaltens scheint unerreichbar..

Aber für Kinder wie Olli ist die „Sonne“ in diesem System der Ort, an den sie einfach nicht gelangen können.  Das ist das idealtypische Bild des Schülers, dem sie einfach nicht entsprechen können. Die Sonnenseite des Verhaltens scheint unerreichbar.

Olli erlebt in den ersten Wochen mit diesem System, dass dieser Ort den immer anderen vorbehalten ist.

Sein Weg führt fast immer über den Schritt Wolke („Achtung, dein Verhalten verdunkelt sich zugunsten eines nicht erwünschten Zustands“), in Richtung der gelben Karte.

Diese Karte ist die erste Stufe der Verwarnung. Hier hat jeder Schüler das Mitspracherecht:

„Gehst du in den Auszeitraum und denkst über dich nach, oder bleibst du hier und versuchst es nochmal?“

Kinder wie Olli wollen nicht weggeschickt werden.

Sie versuchen es lange, geloben Besserung. Nach spätestens fünf Minuten des angestrengten Durchhaltens, wird aber fast immer klar: das wird nichts!

Das Verhalten, das diese Kinder im Klassenraum zeigen, scheint ihrem eigenen Willen oft nicht unterworfen zu sein.

Und raus bist du…

Es geht in Richtung „rot“ und raus ist er dann, ohne Frage vorweg, vor allem bei Fachlehrern und in Vertretungsstunden.

Dieses Prozedere wiederholt sich täglich in nahezu jeder Stunde. Im Auszeitraum schreibt Olli Rückkehrpläne. Das sind vorformulierte Entschuldigungsschreiben, in denen er sein Fehlverhalten reflektieren soll.  

Das liefert er ab, inklusive Entschuldigung bei der Lehrkraft.

Und er sieht auch ein, dass Unterricht so gemeinsam nicht möglich ist.

Er weiß, dass er sich selbst und auch andere am Lernen hindert.

Wir kämpfen uns weiter durch dieses sinnlose Ritual.

Endlich: Die Diagnose ADHS als Erklärung

Am Ende einer viel zu langen Leidenszeit für Olli, steht die Testung durch einen Kinderpsychiater auf Aufmerksamkeitsstörungen an. Dies geschieht nicht zuletzt auch auf Anraten des Sonderpädagogen, der es nach vielen Wochen schafft, Olli im Unterricht zu erleben.

Nicht, weil er faul wäre, sondern weil er unzählige andere Schüler und Schülerinnen betreut und heillos überlastet ist. Das Ergebnis:  Olli ist von ADHS betroffen und sein Verhalten ist die Folge seiner Aufmerksamkeitsstörung.

Vernetzte Hilfe: Schule, Verhaltens- und Lerntherapie

Dann geht endlich alles schnell: eine Förderkonferenz wird einberufen, ein sonderpädagogischer Förderplan geschrieben, Olli erhält einen Nachteilsausgleich und wird eine Weile zieldifferent unterrichtet. Das bedeutet, er bekommt andere, eigene Lernziele, die er auch erreichen kann.

Die Grundschuljahre verliefen ähnlich wie unsere ersten Wochen: Bei völlig durchschnittlicher Intelligenz hat Olli den Anschluss an die Unterrichtsinhalte nahezu aller Fächer verloren.

Olli steht außerdem auf der Warteliste für eine Kinderpsychologin, die sich auf ADS und ADHS spezialisiert hat.

Lerntherapie als Unterstützung

Seine Eltern arbeiten mit ihm unter Anleitung einer Lerntherapeutin, die mit Olli einmal pro Woche intensiv arbeitet. Vor allem an Strategien der Aufmerksamkeitslenkung und daran, dass er es schafft, dem Regelunterricht aufmerksamer zu folgen und zu bemerken, wann es für ihn „kippt“ und sich dann aktiv Hilfe zu holen.

Olli lernt, sein Verhalten zu reflektieren, bevor es mit anderen eskaliert.

Er lernt, sich stärker zu fokussieren und Reize bewusst zu filtern. In Lernsituationen kann er ab jetzt Strategien anwenden, die seine Aufmerksamkeit bewusst auf den Arbeitsauftrag lenken und andere Reize unwichtiger werden lassen.

Die Lerntherapeutin arbeitet vernetzt mit mir als Klassenlehrerin an verbindlichen Regelungen für Olli. In Übereinstimmung mit Sonder- und Sozialpädagogen werden für Olli Auszeiten-Regelungen geschaffen. Diese Absprachen gelten für alle Unterrichte und alle Vertretungslehrer – immer!

Und sie stehen verbindlich in seinem Logbuch. Olli erlebt Lehrerinnen und Lehrer zum ersten Mal in seiner Schulzeit als hilfreich und beratend, als Verbündete auf seinem Weg mit sich selbst.

Er findet seinen Weg, der lang und steinig ist und nicht alles wird auf Anhieb gut. Aber er weiß, woran er ist, weiß viel mehr über sich und kennt Alternativen zum Ausrasten und Stören.

Deshalb anders lernen..

Was hat Ollis Geschichte mit mir und meiner Arbeit zu tun? – Ganz viel! Denn ich habe damals als Lehrerin erkannt, dass Kinder wie Olli im Schulsystem oft über viele Jahre einen Leidensweg gehen, der nicht sein müsste.

Schule hat die Ressourcen und Kräfte nicht, jedes Kind wie Olli zu sehen wie es ist. Aber das ist ihr Anspruch, wenn sie Inklusion ernst nimmt.

Und das behauptet sie!

An diesem Anspruch muss Schule sich messen lassen. Solange sie das nicht kann, sind Kinder wie Olli auf das individuelle Engagement von einzelnen, meist Eltern und Klassenlehrerinnen, angewiesen, Förderung möglich und erlebbar zu machen.

Hilfe von außen für nicht ausreichend stattfindende Inklusion

Als Lerntherapeutin lebe ich diesen Ansatz und bin für genau diese Kinder da. Denn ich sehe Kinder wie Olli auch als „Motor“ des inklusiven Schulsystems, das sich auf den Weg machen muss, die behaupteten Werte auch umzusetzen.

Ich unterstütze die Eltern darin, diese guten, bestärkenden Wege für ihre Kinder zu suchen und auch einzufordern.

Und viele Schulen machen sich bereits auf den Weg, ihre Schulprogramme inklusiv umzusetzen.

„Systemsprenger*innen“ bringen an Grenzen, aber sie setzen große Potentiale für Veränderung und Schulentwicklung frei, weil sie sich nicht anpassen oder darüber Schweigen, was Schule zur Zeit nicht leistet.

Für mich hat dieser Weg in einer inklusiven Schule zu lang gedauert, ich möchte jetzt wirksam sein, jetzt Menschen helfen auf diesem Weg mit sich. Ich möchte mit genau diesen Menschen jetzt einen guten Weg mit Schule finden.

Mit meiner Arbeit diese Wege für alle zu ebnen, das ist für mich ein großes Geschenk!