„Oh Mann, Pascaaaal!“ – LRS als Herausforderung für alle Beteiligten

Fridolin, unseren kleinen haarigen Lernbegleiter auf dem Schoß, die kleinen Hände im Fell vergraben, sitzen Pascal und ich in unserer ersten Lerntherapiestunde. Kummer in den Augen und Angst im Nacken, so kann man das traurige Bild beschreiben, das Pascal an diesem Nachmittag abgibt.

 

„Brauchst gar nicht fragen“, sagt er ziemlich schnell, „ich red nicht über Schule, ich bin immer nur der Blöde“.

 

 „Glaub ich nicht“, sag ich „beweis ich dir, ist so nicht!“

 

„Ich“, sagt er dann, „bin ich immer nur „oh Mann, Pascaaaal“ ! Es folgt Schweigen.

 

In einer der späteren Stunden mit mir erzählt er mir, was er damals damit gemeint hat.

 

„Oh Mann, Pascaaaal“

Seit dem Kindergarten hat er diesen Satz in den Ohren, wenn er mal wieder aufgefallen ist, sich nicht konzentrieren konnte, Spielzeug geworfen und nicht still gebastelt hatte, wie die anderen Kinder.

 

Und da ging es noch, sagt er, da ging es wenigstens noch nicht ums Lesen.

In der Schule fangen die Probleme an…

Unter einer Lese-Rechtschreibschwäche zu leiden, ist so anstrengend, weil immer alle denken, dass du dumm und faul bist. Immer so tun, als könne man die Dinge, die geschrieben sind verstehen, welchen Sinn die Buchstaben ergeben.

 

Kinder wie Pascal lernen die Wörter ganz häufig wie Bilder auswendig, können sie sich aber oftmals nicht über Laut-Buchstaben-Zuordnungen erschließen.

 

Anzeichen für eine Schwäche im Lesen und Schreiben gibt es oft schon relativ früh. Besonders ausgeprägt zeigen sich Schwierigkeiten aber meistens ab der zweiten Klasse, weil dann die Grundfertigkeiten angelegt sein sollen und abgerufen werden von Grundschullehrer*innen.

„Wir haben so viel mit ihm oder ihr Lesen geübt, aber das wird und wird nicht besser!“

 ist in diesem Zusammenhang der meistgesagte Elternsatz.  

Pascals Eltern verlieren am Anfang oft die Geduld: Sie üben und üben mit ihm, doch die erhoffte Verbesserung stellt sich einfach nicht ein. Seine Eltern schwanken zwischen „Druck machen“ und Mitleid und durch die ganze Überei leiden alle.

Lese- und Rechtschreibschwäche hat viele Gesichter..

Kinder mit LRS geraten beim Lesen sehr oft ins Stocken, ihre Lesegeschwindigkeit ist extrem herabgesetzt. Oft lesen betroffene Kinder auch Wörter vor, die zwar sinngemäß zum Text passen, aber gar nicht in ihm vorkommen. 

 

Extrem schwer fällt ihnen außerdem das Textverstehen, also den Inhalt eines selbst gelesenen Textes im Anschluss wiedergeben zu können.

 

Auffällig ist aber, dass sie ganz häufig keinerlei Probleme mit dem Textverstehen haben, wenn der Text vorgelesen wurde.

 

Im Rechtschreiben fällt bei Kindern wie Pascal auf, dass sie unglaublich viele Fehler machen und dies bereits trotz intensiven Übens und Wiederholens über einen längeren Zeitraum.

Früher ist man davon ausgegangen, dass Kinder mit LRS ganz bestimmte Fehler machen. So galt lange Zeit das Vertauschen von Buchstaben (z. B. b-d; d-t; g-k) als Indikator für LRS, das ist so heute  aber nicht mehr Stand der Wissenschaft.

Buchstabenvertauschungen kommen auch bei Kindern ohne eine diagnostizierte Lese- und Rechtschreibschwäche vor.

Scham und Angst bestimmen den (Schul-) Alltag

Kinder, die von einer Lese- und Rechtschreibschwäche betroffen sind, sind keineswegs weniger intelligent als andere Kinder. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den es zu betonen gilt. Die schlechten Noten, die sich oft in allen Fächern anschließen, sind das Resultat eines nicht durchbrochenen Teufelskreises, den LRS nach sich zieht.

 

Deshalb verfestigen sich negative Glaubenssätze auch mit so großer Geschwindigkeit. Sie erkennen ihre Situation und können sie oft über Jahre auch für andere „vertuschen“, weil sie sich fast immer dafür schämen, anders zu sein.

Entscheidend für die Diagnose ist deshalb auch die Häufung der Fehler bei normaler Intelligenz.  

Das „Oh Mann, Pascaaaaal!“ ist im Laufe der Jahre für Pascal im Grunde zum Selbstbild geworden. Das rufen die anderen Kinder immer dann, wenn sie Pascal unterstellen, er WOLLE nicht.

 

Er schämt sich dafür.

 

Pascal fängt an zu lügen, verschweigt Diktate, erzählt nicht, wenn er wieder eine schlechte Note hat. Er hat immer gerade Bauchweh am Mittwoch, wenn morgens Lesestunde ist und alle laut vorlesen müssen. Und diese Bauchschmerzen sind aus lauter Angst real für ihn.

 

Am Ende bleibt ein trauriger Pascal zurück, der immer weniger denkt, dass er das alles schaffen kann. Das Anderssein auszuhalten und gute Wege zu finden, wird Pascals Lebensaufgabe sein.

Jetzt gerade kann er all das nicht bewältigen.

Schon bald stehen in nahezu allen Fächern nur noch Fünfen im Zeugnis.

Denn, wie werden die meisten Fächer unterrichtet?

Richtig: über Texte und Bücher und? LESEN!

Hilflose Versuche der Schule: Nachteilsausgleich wirkt oft nicht

Anders als zum Beispiel von Lernstörungen betroffene Kinder, haben Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen aber keinerlei Berechtigung, zieldifferent unterrichtet zu werden. Das heißt, sie dürfen keine eigenen Lernziele bekommen, an denen ihre ganz eigenen Leistungen gemessen werden.

 

Pascals Schule bemüht den Nachteilsausgleich. In diesem wird im Rahmen einer Förderkonferenz mit allen Beteiligten besprochen, wie man dem jeweiligen Kind helfen kann.

Bei Pascal kommen regelrechte Klassiker ins Formular: In Klassenarbeiten werden ihm die Aufgabenstellungen vorgelesen und er bekommt mehr Zeit zur Bearbeitung.

 

Klingt gut, ist aber in Umsetzung keine Hilfe und zeigt die oftmals vorherrschende Hilflosigkeit auf, mit denen Schule diesen gravierenden Problemen der Kinder begegnet.

 

Vom einmaligen Vorlesen weiß Pascal in Arbeiten nämlich noch lange nicht, was in der jeweiligen Aufgabe jetzt nochmal gefragt war. Also fragt er wieder und wieder – fragt er nicht, so geht er eben unter. Und das sind die Klassenarbeiten – was aber ist im Alltagsbetrieb? Im Unterricht?

 

Wirklich Zeit hat keiner, ihm vorzulesen was auf den Arbeitsblättern steht und so verbringt Pascal unheimlich viel Zeit mit Warten. Darauf dass ihm jemand hilft.

 

Und weil er so schlecht lesen kann, schreibt er auch ganz viel verkehrt.

 

Letztlich wird er immer verzweifelter und seine Eltern mit ihm.

 

Sie recherchieren über LRS-Therapiemöglichkeiten.

Wie kann Lerntherapie Pascal helfen?

Pascal gibt es nicht, er heißt ganz anders. Aber er steht stellvertretend für viele AndersLerner, die zu mir in die Lerntherapie kommen. 

Pascal bekommt letztlich über die schlechten Noten in allen Fächern auch die Bestätigung für seine Befürchtung, dass er eigentlich gar nichts kann. Eigenwahrnehmung („Ich genüge nicht!“) und Fremdwahrnehmung scheinen übereinzustimmen.

Ressourcenorientierung – Du kannst!

In der Lerntherapie kann Pascal lernen, diese negative Selbstwahrnehmung zugunsten eines ressourcenorientierten Blicks zu verändern.

 

Ressourcen sind dabei Stärken. Orientierung hin zu den Dingen, die er schon kann und dahin, was er alles könnte.

 

Pascals Fall liegt dabei klassisch: die Ursache seiner Probleme im Lesen und Schreiben sind (wie fast immer) die nicht vollzogenen Lernschritte beim Schriftspracherwerb.

Im Rahmen der Lerntherapie wird er systematisch diese nicht vollzogenen Etappen des Schriftspracherwerbs auf anderen Wegen nachholen.

Er wird wieder mehr Zutrauen gewinnen, indem er kleinschrittige Lernerfolge feiert.

 

Und er wird erleben, dass seine schulischen Leistungen in den anderen Fächern einfach das unheilvolle Ergebnis seiner Lese-Rechtschreibstörung sind.

Andere Wege aller Beteiligten

Anderslernen heißt, sich andere Wege zu den schulischen Inhalten zu erarbeiten und teilweise mit Hilfe aller auch zu „erkämpfen“.

 

Die Umsetzung gelingender Inklusion an Schulen ist leider immer noch sehr von dem Engagement einzelner abhängig.

 

Pascals Eltern können einen guten Weg mit Schule angehen, der auch bedeutet, die Situation ihres Sohnes gegenüber den Lehrern und dem Schulsystem zu vertreten.

 

Jede Schule hat Möglichkeiten, Pascal über einen echten Nachteilsausgleich das Lernen in der Schule deutlich zu erleichtern. Es gibt eine große Bandbreite an Hilfsangeboten, die Schule zur Verfügung hätte und das umfasst viel mehr als die Regelung für die Klassenarbeiten.

 

Auch dabei hilft anderslernen – weil ich selbst viele Jahre im Schulsystem gearbeitet habe und diese Wege kenne und ebnen kann. Auch die Gespräche in der Schule mit allen Beteiligten (Schulleitung, Lehrern, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und nicht zuletzt auch mit außerschulischen Organisationen), können durch mich vorbereitet und im Zweifel auch begleitet werden.

Unwissenheit und Überforderung – nicht nur bei den Betroffenen selbst..

Lehrerinnen und Lehrer haben zu oft einfach zu wenig Zeit und sind nahezu immer nicht adäquat ausgebildet, um jeden einzelnen so zu fördern wie es notwendig wäre. Die/ der Normallehrer*in ist keine Fachkraft für Sonderpädagogik oder Lerntherapie, sondern Fachlehrer*in.

Gute Lösungen gemeinsam entwickeln

Ihm oder ihr fehlt oft einfach auch der professionelle Blick, um eine Lese-Rechtschreibstörung zu vermuten. Mit ihnen gemeinsam gute Lösungen zu finden und kleinschrittige Hilfen anzubahnen, auch das ist Teil meiner Arbeit.

Schule als Feindbild – auch dieses Muster kann man durchbrechen und andere Sichtweisen zulassen. Bei allem Verständnis für die machtlose Wut am Ende eines oft viel zu langen Leidenswegs.

Es ist dennoch so wichtig, dass alle Beteiligten kooperieren, sich einigen und auch fachlich im Dialog Lösungen für Kinder wie Pascal suchen.

LRS wirkt – bis ins Zuhause der Kinder hinein mit zerstörerischer Dynamik. Am Ende sind fast immer alle Beteiligten verstört, verzweifelt und hilflos.

Corinna Milinski – anders lernen kann effektive Hilfe leisten, diesen Teufelskreis zu durchbrechen!

 

Mehr zum Thema:

Unsere LRS-Checkliste für alle Eltern, die die Probleme ihrer Kinder im Lesen und Schreiben greifbar machen wollen

LRS-Checkliste

Podcast – Corinna Milinski – Anders lernen.

 

1 Kommentar zu „„Oh Mann, Pascaaaal!“ – LRS als Herausforderung für alle Beteiligten“

  1. Ich finde es gut, dass sie darauf hinweisen, dass Kinder mit Legasthenie sind keineswegs weniger intelligent als andere Kinder und sollten auch nicht wie diese behandelt werden sollen. Auch stimme ich zu, dass mehr Fachkräfte in den Schulen vorhanden sein müssen, um Kinder mit LRS professionell unterstützen zu können. Mein Bruder hatte selbst Legasthenie aber dank einer tollen Therapeutin und verständnisvollen Lehrern, konnte er erfolgreich genesen.

Kommentarfunktion geschlossen.