Der Schülerchor verlässt die Bühne, irgendwo koppelt ein Mikrofon ganz fürchterlich rück und alle erwarten gespannt, was kommen wird.
Warm ist es hier in der Aula und warm wird vielen ums Herz.
„Das Beste ihres Jahrgangs“
Vor Stolz, dass die Grundschuljahre und besonders das anstrengende vierte Jahr, von den eigenen Kindern gemeistert wurde. Die Kinder sind auch stolz, dass sie dazu gehören zu denen, die für die Schulleiterin „das Beste ihres Jahrgangs“ sind. Die Stimme der Schulleiterin überschlägt sich bei dieser Ansprache. Dass sie dabei ein sächliches Nomen bemüht und eben nicht „die Besten ihres Jahrgangs“ anspricht, könnten böse Zungen als unheilvolle Vorahnung deuten:
Ein/e Gymnasiast*in zu sein, das bedeutet in vielerlei Hinsicht, einer oder eine von vielen zu sein, die sich im Ranking der Klassengemeinschaft der ersten zwei gymnasialen Jahre behaupten sollen.
Der selektive Effekt ist gewollt
In Hamburg heißt diese Phase „Beobachtungsstufe“ – und beobachtet wird hier einiges. In einem Kanon der Effizienz (Stichwort G8) wird mit Hochdruck in Köpfe gefüllt, was am Ende „Leistungsprinzip“ heißt. Der Lehrplan sieht dies vor und der selektive Effekt ist gewollt, – wie notwendig.
Das Gymnasium hat deutschlandweit einen Zulauf wie nie – Tendenz steigend! Woran liegt das? Sind plötzlich so viel mehr Schülerinnen und Schüler gymnasial aufgestellt, leistungsaffin und intrinsisch motiviert zu lernen? Die nahezu inflationär erteilten Empfehlungen der Grundschulen bescheinigen dies formal.
Kinder erleben sich als gescheitert
Sind diese Schüler*innen alle wirklich von Lern- und Leistungsvermögen am Ende der vierten Klasse bereit, diesen anspruchsvollen Weg zu gehen? Woran liegt, dass Eltern bei der Wahl zwischen Gymnasien und Stadtteilschulen viel eher das Gymnasium als ersten Weg für ihr Kind wählen, oft sogar gegen jede Empfehlung der Grundschulen? Wohl wissend: mittlerweile rund ein Fünftel der am Gymnasium angemeldeten Schüler*innen erfüllt diese Leistungserwartung nicht und wird die Schule zwangsweise am Ende der sechsten Klasse in Richtung Stadtteilschule verlassen. Diese so genannten „Schulformwechsler“ füllen mittlerweile ganze siebte Klassen an den Gemeinschaftsschulformen. Sie aufzufangen ist eine anspruchsvolle wie traurige Aufgabe, denn nicht selten erleben diese Kinder sich als gescheitert.
Ein Einheitsbrei für alle entsteht
Die Stadtteilschule in Hamburg heißt in anderen Bundesländern Gemeinschaftsschule. Sie gilt vielen Eltern als Worst-Case-Szenario. Sie ist in Hamburg jenes Gemeinschaftsschul-Wesen, das binnen weniger Jahre der Transformation, aus ehemals eindeutig definierten Haupt- und Realschulen, Förder- und Sonderschulen, Gesamtschulen und Aufbaugymnasien zusammengeschmolzen wurde. Wie in einem Hochofen fließt hier am Ende zusammen, was politisch den schönen Titel der „Inklusion“ trägt und damit ein eigentlich großartiges Ziel verspricht: die Chance auf Teilhabe für alle an Bildung, Gemeinschaft und Gesellschaft.
Die Realität, gerade in so genannten „Brennpunkt“-Stadtteilen, bildet ab, was viele befürchten: Diese Schulen sind das oftmals unter unglaublicher Leistungsheterogenität, multiplen inhaltlichen Aufgaben und maximaler Kostenreduktion ächzende Konstrukt, das seine Leistungsfähigkeit fast ausschließlich aus der Kraftanstrengung einzelner generiert. Lehrer*innen an dieser Schulform halten das nicht lange durch, ohne entweder auszubrennen oder aber eigene Ideale vom guten Unterricht soweit über Bord zu werfen, bis ein Einheitsbrei für alle entstanden ist, der sich viel zu oft am unteren Drittel einer Klasse orientiert.
Kampf gegen Windmühlen
Einzelne Sonderschulpädagog*innen kämpfen gegen die Windmühlen der Bürokratie, statt für die gelebte Teilhabe ihrer Schützlinge wirklich Ressourcen zu haben. Gerecht wird man am Ende niemandem so richtig- und allzu oft am wenigsten den Kindern, die Hilfe am meisten bräuchten. Die obere Leistungsspitze gerät an diesen Schulformen viel zu oft aus dem Blickfeld der Pädagogen.
Das alles spricht sich rum und macht Eltern zu Recht Angst.
Eltern ist an dieser Stelle kein Vorwurf zu machen. Den, ganz im humboldtschen Sinne arbeitenden, Gymnasien aber auch nicht! Die Gymnasien werden durch die Dualität des Systems überrannt von Schüler*innen, die eigentlich früher zur Schülerschaft des „guten Realschülers“ gehörten und auf Haupt- und Realschulen auch einen klaren Platz im System hatten. Und deren Teilhabe so überaus wichtig wäre an heutigen Gemeinschaftsschulen. Als Orientierung nach oben für alle anderen und als Regulativ in Richtung der „Schul-Mitte“ der Gesellschaft.
Der Kampf ums schulische Überleben
Anstatt aber in Stadtteilschulklassen präsent zu sein, kämpfen eben diese Schüler*innen heute auf den Gymnasien ums schulische Überleben. Meistens bis ins Kleinste von liebenden Eltern bestärkt und auch maximal unterstützt, aber ebenso oft auch maximal überfordert.
Die Eltern dieser Kinder sitzen nach spätestens einem Jahr sehr häufig verzweifelt bei mir in den Erstgesprächen und wissen nicht weiter.
„Anders“, so sagt er, „ist dieses hohe Pensum auch gar nicht zu schaffen – G8 oder G9 hin oder her“
Ihre Kinder sind fast immer mit dem Leistungsdruck und dem hohen Niveau, das am Gymnasium herrscht, eindeutig überfordert. Schulangst und psychosomatische Beschwerden, Schlaflosigkeit und ein Gefühl der ständigen Leistungserwartung begleiten sie oft. Die Angst davor, aber keine adäquate Alternative im Schulsystem zu finden, treibt diese Eltern an, die Kinder dennoch auf dem Gymnasium zu belassen. Und an den Gymnasien wird weiter selektiert, weil auch hier Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, die für eine andere Schülerschaft ausgebildet wurden. „Leistungsvermögen und der Wille zum Erfolg, das waren immer die Garanten für ein gelingendes Lernen am Gymnasium“, sagt einer von ihnen und will nicht namentlich genannt werden. „Anders“, so sagt er, „ist dieses hohe Pensum auch gar nicht zu schaffen – G8 oder G9 hin oder her“.
Niemand wird Lehrerin oder Lehrer, um auszusortieren
Eine Neuausrichtung vieler Gymnasien geschieht auch heute fast ausschließlich aus der Not heraus durch das Engagement einzelner Schulleitungen und ambitionierter Kollegien, die neue Wege suchen, der neuen Schülerschaft zu begegnen.
Niemand wird Lehrerin oder Lehrer, um auszusortieren.
Viele ehemalige Kolleg*innen berichten davon, regelrecht Angst davor zu haben, in Klasse 5 und 6 eingesetzt zu werden.
Worin also besteht meine tägliche Arbeit als Lerntherapeutin?
Diese Schüler*innen zu bestärken – in allem, was sie mitbringen. Aber ebenso, realistisch aufzuzeigen, was die Mittelstufe bringen wird.
Denn es ist eben nicht so, dass mit dem hart erkämpften Übertritt in die gymnasiale Mittelstufe alles einfach würde. Die hohe Zahl an Schulformwechslern auch in höheren Klassen beweist dies.
Es gibt gesellschaftlich genau am Kern dieses Problems zwei Meinungen, die aber letztlich Ähnliches wollen:
Es gibt die einen, die absolut dafür plädieren, das den Stadtteilschulen eingeschriebene, aber unter gegeben Bedingungen nahezu nicht umsetzbare, Prinzip der inneren Differenzierung (alle Schüler sitzen in einer Klasse, jeder arbeitet an seinem Material und wird maximal individuell gefördert) aufzulösen. Stattdessen setzen diese Stimmen auf eine frühe äußerliche Differenzierung in grundlegende und erweiterte Kurse. Dies wird vor allem von den Stadtteilschulen nach wie vor umgesetzt, die aus Gesamtschulen transformiert worden sind und damit im Vergleich auch erfolgreich sind. Dies sind Stimmen, die sowohl von Stadtteilschullehrer*innen als auch Gymnasiallehrer*innen zu hören sind. Die aber, sind wir ehrlich, keine Chance gegen das Argument haben, dass Teilhabe für alle keineswegs die erneute Aufteilung in „gut“ und „schlecht“ – oder pädagogisch wertvoll formuliert, „gut“ und „weniger gut“ bedeuten kann.
Die Vision: Schulen für alle
Und dann gibt es die, die fordern, jede Form der äußeren Differenzierung in Schulformen abzuschaffen und an „Schulen für alle“ das abzubilden, was heute Gesellschaft ist. Als Ziel: Beschulung jedes und jeder Einzelne*n nach seinen Möglichkeiten auf unterschiedlichen Lernniveaus. Die dazu notwenigen multiprofessionellen Teams, würden aus Gymnasial-, Mittelschul- und Grundschullehrern, Sozialpädagogen und Sonderpädagogen gebildet werden, die von Klasse eins bis hin zum Abitur wirken würden. Diese Professionen, die heute oft wenig miteinander zu tun bekommen und sich beständig gegenseitig den „schwarzen Peter“ zuschieben, könnten sich stattdessen an solchen Schulen gegenseitig bestärken und unterstützen. In deutlich kleineren Lerngruppen, mit neuen Methoden, individuelles Lernen ermöglichend, das sollte das Ziel sein.
Umgestaltung und Neuorientierung alternativlos?
Bildungsgerechtigkeit und gelebte Inklusion inmitten der Schulgesellschaft, sähe in meiner Vision einer guten Schule genauso aus.
Ein solcher Schritt bedeutete, Schule neu zu denken, umzudenken und auch, alte Ideale zu verschieben – und das auf allen Seiten.
Eine Umgestaltung und Neuorientierung scheint aber alternativlos zu sein, weil das heutige System an jede Grenze gerät und mit ihm alle von Schule Betroffenen.
Entscheidung: Lebensweg des Kindes und eigene gelebte Werte
Und die jetzigen Schüler*innen und ihre Eltern? Was können sie tun, um ihre Kinder in diesem zweigliedrigen System, das sich deutschlandweit immer mehr durchzusetzen scheint, irgendwie sinnvoll schulisch groß werden zu lassen?
Sie können und müssen sich entscheiden. Für ihr Kind und seinen Lebensweg und für eigene, gelebte Werte.
Diese Entscheidungen kann ihnen auch niemand abnehmen. Aber wenn sich abzeichnet, dass ein Kind dem enormen Druck bereits in der Beobachtungsstufe nicht standhält, dann rate ich jedem, sich eine gut aufgestellte Stadtteilschule mit innovativem Konzept zu suchen. Oder aber, zur Zeit noch auf die Bundesländer auszuweichen, in denen es noch mehrgliedrige Schulsysteme gibt und auch beispielweise die großartig aufgestellten Gesamtschulen anderer Bundesländer ins Auge zu fassen.
Ein Kind in die gewünschte Richtung zu drängen, kann funktionieren.
Nicht immer sind es allein der Leistungsdruck und die inhaltlichen Erwartungen, an denen die Kinder zu scheitern drohen.
Für mich als Mutter ergab sich genau diese Situation. Mein Sohn, als kreativ-chaotisches Kind, verkümmerte trotz guter Noten am Gymnasium und es zeichnete sich ab, dass wir nur unter maximaler Kraftanstrengung und nicht zuletzt auch gegen seinen Willen, die Art des sehr lehrerzentrierten Lernens „durchboxen“ hätten müssen. Ein Kind in die gewünschte Richtung zu drängen, kann funktionieren.
Aber was ist der Preis?
Diese Art zu Lernen und diese Art von Drucksituation, hätte in keiner Weise dem Wesen meines Kindes entsprochen. Und in dem Moment, in dem er für sich entschied, diesen Weg in dieser Form nicht weitergehen zu wollen und sogleich diesen Entschluss in die Tat umsetzte und an eine Oberschule (früher Haupt- und Realschule) in Niedersachsen wechselte, da wusste ich, ich könnte in meinem Leben nie stolzer auf ihn sein. Seitdem geht es ihm gut und er hat großartige Lehrerinnen und Lehrer, die ihn auf seinem Weg bestärken und unterstützen, die Beziehung vor Erziehung stellen und trotzdem klar sind in ihrer Leistungserwartung. Da haben wir großes Glück gehabt.
Schau vor allem auf dein Kind
Ich würde gern jedem sagen, der an diesem Punkt mit seinem Kind steht: schau auf dich und deine Werte, aber schau vor allem auf dein Kind. Und ein Bildungsabschluss, der nach einem langen Weg des Kampfes und der Entbehrung auf Kosten der ganzen Familie regelrecht „errungen“ wird, ist keine Garantie für ein erfolgreiches und selbstbewusstes Leben. Im Gegenteil. Nicht selten erlebe ich junge Erwachsene, die nach all dem so recht nicht wissen, wer sie sind und welche Stärken sie selbst in sich tragen. „Papa hat ne Eins in Mathe geschrieben und nicht ich!“ Dieser Satz eines Abiturienten auf seinem Abiball, machte die Tragik dieser Situation für mich deutlich.
Jeden Tag arbeite ich mit Menschen, die aus dem System fallen.
In einer Zeit, in der ein Bildungsabschluss durch unzählige weitere auf zweiten, dritten und vierten Bildungswegen erweitert werden kann und Erwerbsbiografien immer vielfältiger und auch offener werden, ist keinem Kind damit geholfen, wenn die Eltern es durchs Abitur schleifen. In meiner Praxis arbeite ich jeden Tag mit Menschen, die aus dem System fallen – und die es nicht zuletzt auch dadurch, massiv in Frage stellen.
Das duale Schulsystem generiert sehr viele seiner Probleme selbst.
Die Frage ist, wann wir erkennen, dass das duale Schulsystem vieler Bundesländer sehr viele seiner Probleme erst selbst generiert, um dann ratlos vor ihnen zu stehen. Und warum man nicht endlich auch Eltern und Schüler*innen, als die direkt Betroffenen von Schule, in die Überlegungen einer „Schule der Zukunft“ einbezieht.
Sie hätten einiges zu sagen – zum Beispiel, dass die Gesellschaft Menschen braucht, die an sich glauben, gerade WEIL sie anders sind.
Lies dazu auch meinen Blogartikel: Nicht für die Schule sollten wir lernen… – Corinna Milinski – Anders lernen
toller Artikel!
Danke, lieber Vincent..