Das Schweigen der Lehrer

Allein das Wort „Heimbeschulung“, das dieser Tage wieder einmal in aller Munde ist, ist sinnbildlich:  eine Wortschöpfung der Sonderklasse!

Beschulung, – das klingt grenzenlos verstaubt und antiquiert. So ein abgehängter Begriff, den keiner mehr gebrauchen würde, der von guter Pädagogik spricht.  

Vom Lernen, von diesem Zauberwesen, dem ich jeden Tag in meiner Lerntherapiepraxis begegne.

Zauberwesen Lernen

Dieses Gutes-Lernen-Wesen setzt sich wundersam mit mir und meinen kleinen Klient*innen an den Tisch und zaubert. Es verzaubert mich und diese Kinder, denen das fast immer nach langen Jahren zum ersten Mal passiert. 

Plötzlich gelingt täglich, was in sieben Lehrerinnenjahren an einer Hamburger Stadtteilschule so selten war wie echte Pausen von diesem Multitasking-Job.

Wenn ich daran denke, wie gut das getan hätte: zu sehen, dass all das gelingen kann, was man in der Theorie über Lernen wusste.

Dass „intrinsisch motiviertes Lernen“ existiert.

Was wäre, wenn man Zeit hätte für die Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes in einer Klasse?

Für diesen wertschätzenden Blick, den ich auf jedes einzelne Kind in meiner Praxis legen kann, wie einen warmen Mantel über jemanden, der entsetzlich friert, wäre ich Lehrerin geblieben.

Aber es gab diese Momente viel zu selten, die Regelschule ist ein maximal defizitorientiertes System.

Du, liebe/r Lehrer*in nennst diese Vorstellung vom gelingenden Lernen für alle utopisch? Das könne ja nicht der Anspruch sein bei 25 Schüler*innen in einer Klasse? Das sei ein viel zu hoch gestecktes Ziel, eine Utopie von einer, die schließlich ja auch nicht mehr im System stecke?

Ich sage: Nein, das ist es nicht!

Es ist die Erinnerung an ein Versprechen, das sich das staatliche Schulsystem auf jede Fahne schreibt.

Schlagwort: Inklusion

Inklusion wird als DAS Schlagwort unserer Zeit von Bildungspolitiker*innen und Schulleiter*innen so lange weitergereicht, bis keiner mehr Verantwortung übernehmen muss. Weder für ihre Umsetzung, noch für die Folgen, die ihr Nichtstattfinden hat.

Aber was bleibt vom großen Anspruch, jeden Menschen in Schule zu sehen wie er ist, mit all seinen Kompetenzen, die er mitbringt?

Wo sind sie denn, die guten Konzepte für die Kinder, die Lehrer*innen allzu gerne in Konferenzen pädagogisch-zynisch „verhaltensoriginell“ nennen?

Meine Meinung ist, dass wir endlich die Ohnmacht beschreiben sollten, mit ihnen adäquat umzugehen und die unglaublich große schulische Arroganz und Ignoranz, mit der diese Kinder schon ganz früh konfrontiert werden.

Hart ins Gericht gehen sollten wir nicht mit den vermeintlichen „Systemsprenger*innen“, sondern mit dem System selbst, dessen Grenzen sie überschreiten – und das zu Recht!

Anstalt für Wissensvermittlung

Wer fragt danach, ob Inklusion tagtäglich gelingt? Wer benennt all jene, die in Schule einfach nicht ankommen, die nicht gesehen werden, die dabei fast immer still erdulden, dass das so ist?

Richtig! Keiner!

Und wenn es jemand tut, dann ist er oder sie ganz schnell ein*e Illusionist*in.

Denn was müssen Lehrer*innen nicht alles leisten? Was soll Schule nicht plötzlich alles sein – neben der Anstalt für Wissensvermittlung!

Alles zu viel, nicht leistbar!

Das System von vorgestern ächzt unter der Last all der Aufgaben der neuen Gesellschaft! Und dann die ganzen Konferenzen, die groteske Mechanismen aus vergangenen Zeiten bedienen und wie Relikte hochhalten.

 

Und nun auch noch Corona!

 

Schweigend in die Katastrophe

Neben der Debatte um Digitalisierung und Fernunterricht, da ist oft genug zu allererst kein Platz mehr für Binnendifferenzierung und Extra-Aufgaben für alle, die vom vermeintlich gesunden Mittelmaß abweichen. Und zwar in alle Richtungen.

Da sitzt der „ADHSler“ mit dem Hochbegabten plötzlich in einem sehr wackeligen gemeinsamen Boot.

Eine einzelne Meinung, werdet ihr sagen. Von einer, die eh immer schon „gegenan“ gewesen sei? Die ja verrückt sein muss, all die Sicherheit und die Lebenszeitverbeamtung inklusive Einserabschluss hinter sich zu lassen, um eine kleine Praxis zu eröffnen und jeden Tag mit den Schwächsten zu arbeiten.

Versteht mich bitte nicht falsch, liebe Noch-Lehrer*innen,

ich habe Hochachtung vor jedem, der es schafft, in diesen Zeiten munter zu unterrichten.

Und dabei nicht zu sehen, auf welche Katastrophe Schule heute gesellschaftlich zusteuert!

Ich wollte es und konnte es nicht!

Unbequeme Wahrheiten

Aber ich habe heute eine andere Aufgabe für mich definiert, die ihr genauso gut umsetzen solltet: sagen, wo es im System Schule brennt und einzustehen dafür, diese unbequemen Wahrheiten auszusprechen und Veränderungen laut zu fordern.

Denn das könntet ihr!

Aller Sicherheits-Freakerei zum Trotz. Ihr seid die ängstlichsten Menschen des Landes – und die stillsten noch dazu.

Warum?

Euer Schweigen hat mich vertrieben und treibt mich heute an, es von außen zu brechen.

Meine Schüler*innen erleben zu einem Großteil zum ersten Mal bei mir, dass sie jemand sind. Dass sie etwas können und gut genug sind.

Dass sie nicht zum Versagen geboren sind und dass ihre Schwächen eben keine sich selbst erfüllende Prophezeiung sein müssen.

Warum schafft das die Schule nicht?

Weil Schule sie einfach nicht sieht. Und ich lasse nicht gelten, dass gerade diese Kinder es sein sollen, an deren Ende die Kraft und Zeit nicht reichen soll.

Ich sage überhaupt nicht, dass Lehrer*innen das alles nebenbei leisten sollen. Aber sie sollen es eben auch nicht aus lauter Kraftlosigkeit und Resignation NICHT leisten und nichts dazu sagen.

Einen Nachteilsausgleich für ein Kind mit einer Lese-Rechtschreibstörung nicht zu gewähren, oder viel zu spät zu beschließen, das ist keine Option und auch kein Kavaliersdelikt.

Ihnen zu helfen, ihre Wege zu ebnen, das ist euer Job!

Genauso wenig kann es Lebensrealität von Schüler*innen mit AD(H)S bleiben, dafür immer wieder bestraft zu werden, dass sie aus dem Rahmen fallen und vom Schulsystem beständig so getan wird, als wollten sie einfach nur nicht.Es passiert doch schon ganz viel und das sei Schwarzmalerei, sagt ihr.

Nein, sage ich, das alles reicht überhaupt nicht aus!

Fehlende Sonderpädagog*innen: Armutszeugnis statt Förderplan!

Der sonderpädagogische Betreuungsschlüssel an deutschen Schulen ist ein Armutszeugnis.

Wenn ein Sonderpädagoge fast tausend Schüler*innen an einer Schule betreut, dann braucht es keine beweisende Statistik, diesen Skandal zu erahnen.

Es interessiert dabei die Dienstherren nicht, dass ihr Lehrer*innen und Lehrer für die von euch täglich ausgeübten, sonderpädagogischen Tätigkeiten fast alle nicht ausgebildet seid?

Dann ist es an der Zeit, diese Missstände zu benennen oder aber, wenn ihr schon schweigen wollt, die richtigen Prioritäten in eurem Tun zu setzen!

Wir brauchen Menschen, die an sich glauben, gerade WEIL sie anders sind.

2 Kommentare zu „Das Schweigen der Lehrer“

  1. Endlich mal eine, die den Mut hat den Mund aufzumachen und über die miserablen Bedingungen und das System zu sprechen.
    Doch, was haben Eltern für eine Wahl?

  2. Ganz grossen Respekt! Vielen Dank für den Beitrag. Mich erleichtert, dass es Menschen wie Sie gibt. Ich habe selbst, mein Mann (als Hochbegabter) ebenfalls, in der Schule gelitten und mit einigen unserer Kindern nochmal. Die Schule in der jetzigen Form ist m.E. schlichtweg nicht kindgerecht, nicht individuell genug, auf Fehler und nicht auf Gelingen ausgerichtet, fördert ungesunde Konkurrenz und nicht Miteinander, ist nicht bedürfnis- und schon gar nicht zukunftsorientiert… Schule in der jetzigen Form wird m.E. dem Leben und den zukünftigen Aufgaben nicht gerecht.
    Es gibt sehr engagierte Lehrer:innen, aber die meisten sind dem System angepasst.
    Sicher kennen Sie Gerald Hüther und das Institut für Potentialentfaltung und andere, wie Andre Stern. Es gibt also glücklicherweise immer wieder Menschen, die aus dem System ausbrechen. Was wir brauchen, ist eine Bewegung. Vielleicht ist die Zeit jetzt reif.

Kommentarfunktion geschlossen.